Meine Gedanken

über Stettin

Paulina Frąszczak

Es regnet und es ist kalt. Mit der möglichst positiven Einstellung beginne ich meinen Spaziergang durch Stettin, bei dem mich fremde Leute begleiten. Auch wenn meine anfängliche Freude zusehends schwindet, versuche ich, ein wenig mehr Optimismus in mir zu wecken. Ich will aber nichts vortäuschen. Stettin hat mich bislang nie positiv beeindruckt, geschweige denn emotional angesprochen. Dem unermüdlichen Treiben der Großstadt, ihrer Eintönigkeit, dem niederdrückenden Pessimismus der Stettiner und der ewigen Hast konnte ich nie etwas abgewinnen. Diese unaufhörliche Bewegung. Wozu soll das gut sein?

Oft, wenn ich am Straßenrand vor dem Zebrastreifen stehe, beobachte ich fremde Menschen. Ich versuche dann zu ergründen, was sie gerade umtreibt. Was denken sie in diesem Augenblick, was bewegt sie und wohin sind sie so hastig unterwegs? Warum nehmen sie sich keine Zeit, um die „Schönheit“ ihrer eigenen Stadt überhaupt wahrzunehmen? Sie laufen mit Scheuklappen herum und beachten nichts. Jetzt bin ich aber diejenige, die sich mit gemischten Gefühlen auf eine Entdeckungsreise durch Stettin einlässt.

Die großflächige Parkanlage Jasne Błonia ist der Stolz von Stettin. Sie ist in der Tat beeindruckend. Aber im Vergleich mit dem nahe meiner Heimatstadt gelegenen Nationalpark Wolin erscheint der Stettiner Park geradezu klein. Ich liebe es, mit meinem Freund durch den Nationalpark zu laufen, auch wenn uns beiden dafür immer weniger Zeit bleibt. Im Dickicht des dortigen Waldes kann man sich vom Alltag abschotten, Zuflucht suchen, eigenen Gedanken freien Lauf lassen. Jasne Błonia hingegen ist allgemein zugänglich, an eine alles durchdringende Stille ist hier kaum zu denken. Dennoch versuche ich die Stettiner, denen ihr Park so viel bedeutet, zu verstehen. Das Leben in einer Großstadt geht nun mal mit manchen Einschränkungen einher.
Ich stehe nun im Regen, mitten im Park Jasne Błonia, und lausche der Stimme von Falko, unserem heutigen Stadtführer. Dabei versuche ich, die Geschichte dieses Ortes zu begreifen und die Gefühle der hier lebenden Menschen zu ergründen. Manche von ihnen erinnern sich an den emotional bewegenden Besuch des polnischen Papstes und wirken sichtlich stolz darüber, was sie damals hier erleben durften. Allmählich begreife ich das alles. Weder die Größe noch die Beschaffenheit des Ortes spielen eine Rolle. Es geht vielmehr um ein Gefühl, wirklich dazu zu gehören. Wer hier geboren wurde und aufgewachsen ist, kann jederzeit von diesem Ort aus auf eigene Erinnerungen zurückgreifen. Dabei müssen es nicht immer positive Bilder sein. Entscheidend ist, dass die Erinnerungen das einmal Erlebte wieder lebendig werden lassen.

Es regnet. Wir ziehen weiter. Jetzt weiß ich: wäre ich in Stettin geboren und hier aufgewachsen, hätte ich die Parkanlage Jasne Błonia fest ins Herz geschlossen. Hier muss man wenigstens nicht fürchten, plötzlich Auge in Auge einem großen Wildschwein gegenüber zu stehen, was ich zuletzt im Nationalpark Wolin erleben musste.

Wały Chrobrego, die einstige Hakenterrasse. Die Altstadt mit dem Schloss. Wir besuchen Orte, die fast jeder von uns eigentlich schon kennt, aber wir erfahren Dinge, über die wir bislang so gut wie keine Ahnung hatten. Wir sehen uns nun die Kulturdenkmäler genauer an, die wir zwar täglich passieren, aber kaum wahrnehmen. Die grauen und finsteren Häuserfassaden gewinnen auf einmal an Farben. Auch meine Vorstellung von der Stadt gewinnt allmählich an neuen Konturen. Ich stehe mit erhobenem Kopf und schaue mir die illuminierten Mauern des Schlosses der Pommerschen Herzöge an. Von Montag bis Freitag kann ich von meinem Fenster aus das gleiche Bild sehen. Ein einziges Mal in den letzten zwei Monaten, seitdem ich in der Wohnung in der ul. Wyszyńskiego lebe, habe ich durch das Fester hinausgeschaut. Mein Blick streifte dabei in der Tat über das Schloss, aber nur einen kurzen Augenblick lang. Jetzt aber nehme ich das Schloss bewusst wahr, und zwar nicht nur als ein schön beleuchtetes Bauwerk, sondern als einen Standort, wo die Geschichte der Stadt nachhaltige Spuren hinterlassen hat.

Es wird immer kälter und ich friere. Ich spüre geradezu, wie eine beginnende Erkältung mich packt. Aber das ist nicht der einzige Grund für mein Zittern. Ich fühle, dass es mir ganz einfach leid tut. Wie ein Bumerang kehren nun Bilder von den Stettinern zurück, die so blind an ihrer Stadt vorbeilaufen. Dies sollte mich eigentlich nicht wundern. Das tut es aber. Ich fühle, wie ich mich mit dieser Stadt zu identifizieren beginne. Mein letzter Gedanke ist, ob die Bewohner dieser Stadt es irgendwann auch tun werden.

Ende der Stadtbesichtigung. Wir kehren um. In der Luft liegt der zarte Hauch eines Schokoladendufts.

Es regnet ununterbrochen.

Paulina Frąszczak