Bahnsteig

Paulina Chlebicka

Fünf Uhr morgens. Ein grauer, düsterer Himmel. Ein Zug bremst mit metallisch kreischendem Geräusch. Stille. Heerscharen von Reisenden erobern den Hauptbahnhof von Stettin. Es sind Touristen und Arbeitspendler.

Über die Menge der durcheinander eilenden Menschen ragt ein Mann hinweg. Elegant gekleidet, mit einem roten Rosenstrauß in der Hand. Ich beobachte sein Verhalten und vermute, dass er nach jemandem Ausschau hält. Plötzlich erstrahlt sein Gesicht in einem Glanz von Glück. Irgendwo am Ende des Bahnsteigs steht sie. Diese Frau hat sein Herz zum Pochen gebracht. Sie ist sicher ein paar Jahre älter als er, aber weder das Alter, noch die Entfernung oder eine andere Kultur, die sie trennen, spielen eine nennenswerte Rolle.

Es war wie ein Glanz inmitten von grauer Eintönigkeit. Wie ein Innehalten inmitten von Eile und Bewegung. Das hat meine Aufmerksamkeit gefesselt.
Die beiden verharren einige Minuten lang in der Umarmung, dann ziehen sie gemeinsam weiter entlang der Oder. Sie sprechen miteinander auf Deutsch, auch wenn sie Polin ist. Es ist sein erster Besuch in Stettin, das so anders ist als Berlin, wo er herkommt. Sie versprach, ihm die Stadt zu zeigen. Sie versprach, sie würde sich in ihn verlieben, genauso wie er es getan hatte. Die Sonne geht auf und die Stadt erwacht zum Leben. Die sommerliche Kühle streift ihre Gesichter. Sie gehen Richtung Altstadt, in eine Wohnung, die sich in einem alten, unmittelbar am Schloss gelegenen Mietshaus aus deutscher Zeit befindet. Beim Frühstück erzählen sie sich ihre Lebensgeschichten.

Sie sind völlig verschieden und dennoch ein Herz und eine Seele. Vieles trennt sie, aber die Liebe vermag es zu überwinden. Danach schlendern sie durch die Gassen der Stadt. Dabei kommt ihr eine Geschichte in den Sinn, die sie an einem Winterabend gelesen hat. Es ist eine wahre Geschichte von zwei Verliebten, die sich hier 1955 begegneten. Eine wahrhafte Liebe. Aber es kam der Tag, an dem sie sich voneinander trennen mussten. Sie sah nun denselben Hauptbahnhof vor sich, an dem die beiden sich zum letzten Mal küssten. Der Mann stieg in einen grünen Zug mit gelbem Streifen ein. Er war Deutscher und wurde zwangsausgesiedelt. Im Herzen der Frau verblieb eine gähnende Leere und eine immerwährende Sehnsucht.
Diese Erinnerung ließ sie die Hand des Geliebten noch fester drücken in der Hoffnung, das Schicksal möge den beiden ein glücklicheres Ende bescheren. Ruhigen Schrittes zogen sie weiter. Noch eine Allee und sie erreichen ihr Ziel.

Ringsum ist es grün. Sie sitzen eng angeschmiegt und trinken heiße Schokolade. Sie beobachten Dutzende Passanten, die unruhig hin und her eilen. Die Beiden genießen jeden Augenblick, den sie miteinander verbringen. Es dämmert. Der Moment der Trennung rückt immer näher. Sie gehen Richtung Hauptbahnhof und versuchen, das Bevorstehende wegzudenken. Sie nutzen jeden Augenblick des Miteinanders.

Und nun stehen sie am gleichen Bahnsteig, umgeben von der gleichen grauen Eintönigkeit. Die Stadt ist im Dämmerzustand. Und sie stehen einfach da, fest umarmt. Sie sind immer noch dieselben und dennoch ist es anders. Es ist traurig. Während er in den Zug einsteigt, denkt sie wieder an die Geschichte des Liebespaares zurück. Eine Träne kullert ihre Wange hinunter. Sie will nicht das empfinden, was diese Frau damals 1955 fühlen musste.

Werden sie sich jemals wiedersehen?