Stettin
Olga Wróblewska
Eine große, historisch bedeutende Stadt, die viele Eindrücke vermittelt. Es gibt zahlreiche Sehenswürdigkeiten, die man im hektischen Alltag schlichtweg vergisst. Jeder betrachtet Stet-tin aus einem anderen Blickwinkel. Für die einen ist es ein Zuhause, für die anderen ein vorü-bergehender Aufenthaltsort oder nur eine Zwischenstation auf der touristischen Route. Wie verschieden unsere Wahrnehmungen und Ansichten doch sind, und wie nah sie zugleich bei-einander liegen. Ich kann nicht mit aller Klarheit sagen, was Stettin ausmacht. Ist es eine grü-ne oder doch eher eine graue Stadt?
Die Hauptstadt der Woiwodschaft Westpommern, die voller Gegensätze ist, weckt viele positive wie negative Emotionen. Wunderschöne Seen, Parkanlagen, Wälder, Kulturdenkmä-ler, verschiedene wissenschaftliche und kulturelle Einrichtungen, Freizeitangebote – all das ist zum Greifen nah. Aber darunter gibt es auch Orte, die den Eindruck erwecken, als ob die Zi-vilisation dort immer noch keinen Einzug gehalten hätte.
Die Stadt liegt mir am Herzen, weil ich hier zur Welt kam, groß geworden bin und mir von hier aus die Welt erschließen konnte. Hier lernte ich viele wunderbare Menschen kennen und erlebte viel Gutes, auch wenn die Traurigkeit, Mühen oder Schicksalsschläge keinen weiten Bogen um mich machten. Jede Ecke dieser Stadt weckt in mir Erinnerungen, mit jedem kleinen Winkel verbinde ich eine bestimmte Geschichte.
Als Stettinerin möchte ich natürlich stets nur Gutes über die Stadt bezeugen, das meines Erachtens tatsächlich überwiegt. Aber es gibt hier auch vieles, das mich stört, das mir keine Ruhe lässt. Oft hängt es mit meinem Unbehagen zusammen. Jeder kennt es: Man steht mit dem linken Bein auf und fängt an, alles ringsum mit Missmut zu betrachten. Alles erscheint plötzlich in düsteren Farben. Selbst bei meiner im Großen und Ganzen optimistischen Einstel-lung nehme ich doch wahr, wie sehr ich bei den Stettinern schlichte Freundlichkeit, Kulti-viertheit und Offenheit gegenüber Fremden vermisse. Es stimmt schon, dass das Böse mehr ins Auge sticht, weil es mehr Aufmerksamkeit erzielt. Hier jedoch fällt es besonders schwer ins Gewicht.
Ungewöhnlich oft begegne ich hier Personen voller Wut und Verbitterung. Es mag durch-aus daran liegen, dass sie überarbeitet und daher müde sind. Und dennoch wäre es so nett, durch die Stadt zu laufen und dabei einfacher Sympathie und natürlicher Freundlichkeit zu begegnen. Beides kostet ja nichts. Es berührt mich unangenehm, wenn ich gegenseitige Feindschaft oder nur mangelnde Wertschätzung beobachten muss. Das kann einem den Tag richtig verderben und jede Hoffnung rauben, dass die Stadt einmal sympathischer erscheint. Ich gebe mir dann alle Mühe wegzuschauen und freue mich einfach darüber, dass ich in mei-nem persönlichen Umfeld Menschen kenne, die kontakt- und begegnungsfreudig sind. Wir alle sind voller Lebenslust und geben Stettin hoffentlich ein freundlicheres Gesicht.
In den letzten Tagen konnte ich ein wenig innehalten und meine Stadt etwas eingehender betrachten. So konnte ich viele faszinierende Facetten meiner Heimatstadt kennenlernen. Stet-tin hat eine bewegende Geschichte. Hier gibt es geheimnisumrankte Orte, die mir bislang ver-schlossen blieben. Dank ihrer Lage und ihren vielfältigen Angeboten verweist die Stadt ins Offene und bietet viele Möglichkeiten, wunderbaren Menschen zu begegnen, die aus aller Welt herkommen. Ich bin stolz auf unsere Kultureinrichtungen, auf die vielen sanierten Bau-ten und auf immer mehr neue Begegnungsorte. Mein Wunsch ist aber, dass auch die Orte nicht in Vergessenheit geraten, wo Veränderungen nötig sind, damit sich die Lebensqualität der hiesigen Menschen etwas bessert. Nach dem letzten Besuch im Stettiner Polizeipräsidium und dem Gespräch mit einem erfahrenen Polizisten weiß ich, dass ich mich in der Stadt etwas sicherer fühlen kann. Vor allem dank seiner Grenzlage bietet mir Stettin eine einmalige Mög-lichkeit, die deutsche Sprache, die ich sehr mag, zu lernen und im Alltag zu gebrauchen.
Ich denke, das Ärgerliche und Bedrückende lässt sich ändern. Es wäre jedenfalls ganz viel erreicht, wenn die Stettiner ihr Verhalten, das möglicherweise auf mangelndes Wissen, falsche Vorbilder oder schlechte Erfahrungen zurückgeht, korrigieren würden.
Wie dem auch sei – Stettin schließt man ohnehin gern ins Herz!