Unerklärliches

Szczecin

Luise Klatte

Bei meiner Ankunft im regennassen Dunkel der Stadt ist mir unbehaglich zu Mute. Die Novembernacht ist bereits hereingebrochen, als ich den Bus verlasse. Unschlüssig schultere ich meinen Rucksack, mache mich mit den wenigen Mitreisenden auf in Richtung des Bahnhofsgebäudes. Rechterhand kann ich Wasser erahnen. Ob das bloß ein Nebenarm der Oder ist oder zu dem Hafen gehört, der lange Zeit das Bild und die Identität der Stadt geprägt haben muss?

Die Straßen um den Bahnhof sind wie leer gefegt. Kaum vorstellbar, dass hier über Jahrhunderte hinweg reges Treiben geherrscht haben muss. Dass Stettin wirtschaftlich lange eine hervorgehobene Stellung inne gehabt, nach dem Zweiten Weltkrieg hier sogar der wichtigste Hafen Polens gelegen hat. Doch das gehört wohl längst der Vergangenheit an. Die Stadt ist leise, wirkt beinahe verlassen.

Die wenigen Menschen, die mir hier im vermeintlichen Zentrum der Stadt begegnen, mustere ich mit Skepsis. Selten habe ich mich in einer Stadt und vor mir selbst so fremd gefühlt. Ich blicke durch die beschlagenen Fensterscheiben der Straßenbahn und versuche, mir ein Bild von der Stadt zu machen. Was ich sehe, sind nur menschenleere Straßen, gesäumt von altehrwürdigen Bauten. Wenig Trubel in der Tram. Eine Metropole ohne Großstadtflair, deren Anordnung sich mir nicht erschließen will.

Die folgenden Tage bringen wenig Klarheit. Zu wenig Zeit verbringe ich in der Stadt und auf den Straßen, als dass ich markante Orte kennen oder wiederfinden könnte. Falls es diese überhaupt gibt. Lonely Planet kennt eine Sehenswürdigkeit und drei Museen, viele Restaurants mit ausschließlich internationaler Küche und eine einzige Bar.

Wirklich außergewöhnlich ist, dass mir keine Bilder in den Kopf schießen, wenn ich über Szczecin nachdenke. Denke ich an Hamburg, sehe ich den Hafen, Breslau, das heutige Wrocław, machen für mich die gemütlichen Kneipen in der Altstadt aus, Kiew – die endlosen Rolltreppen, die tief in den Untergrund zur Metro führen. Jede Stadt, die mich für Tage, Wochen oder Monate beheimatet hat, weckt greifbare Assoziationen. Aber für Szczecin, das frühere Stettin, habe ich nichts Vergleichbares.

Was macht diese Stadt dann aus? Mit welchen Attributen werde ich einem Ort gerecht, den ich eigentlich kaum kenne? Wie kann ich das düstere Stadtbild mit den faszinierenden Begegnungen in Einklang bringen, die ich während meines Aufenthaltes machen durfte? Vielleicht muss ich das gar nicht. Denn gerade dieser scheinbare Widerspruch zwischen erstarrtem Äußeren und lebhaftem Inneren machen die Stadt für mich aus. Ich habe Szczecin als einen Ort erfahren, der nicht genau weiß, was er ist oder was er sein möchte; der sich ein wenig wehmütig an vergangene Blütezeiten erinnert und seine Zukunft erst noch ersinnen muss. Schaut man hinter einige der grauen Fassaden, kann man Menschen begegnen, die der Stadt ein Gesicht geben wollen. Einige sind in Szczecin geboren, begreifen sich als Kinder der Stadt. Andere sind zugezogen oder zurückgekehrt. Sie wissen um die bewegte Geschichte des Ortes und wollen ihm neues Leben einhauchen. Dank ihrem Engagement entsteht Neues, wobei manche politisieren, während andere polarisieren.

Außerhalb der Stadtgrenzen erfährt man wenig über das bescheidene kulturelle und gesellschaftliche Leben der Stadt. In der nationalen und internationalen Wahrnehmung existiert Szczecin kaum. Für manche ist es überraschend, dass Stettin gar nicht an der Ostsee liegt, dafür aber nur 150 Kilometer von Berlin entfernt ist und auf dem Weg dorthin die – heute kaum mehr wahrnehmbare – deutsch-polnische Grenze passiert werden muss. Vielfach sind Ansätze zu vernehmen, die Stadt als wichtigen grenzüberschreitenden Ballungsraum zu denken, der eine europäische Identität widerspiegeln soll. Was diese europäische Identität wirklich ausmacht, kann ich nicht beantworten. Als ein bedeutender Ballungsraum wird Szczecin jedoch von den wenigsten wahrgenommen. Weder von den eigenen Einwohnern, noch in anderen Regionen Polens, geschweige denn im westlichen Nachbarland.

Vielleicht braucht es einfach mehr Zeit, bis die Stadt zu neuem Leben erwacht, bis Szczecin seinen eigenen Weg findet und sich der Aufgabe stellt, seine bedeutende Historie in die Gegenwart und weiter in die Zukunft zu transportieren. Die Schönheit der Stadt muss erst entdeckt, anderen mitgeteilt, publik gemacht werden.

Oder Szczecin schafft es, ein neues Kapitel in seiner Historie aufzuschlagen, indem es seine städtische Identität und seine Anziehungskraft ganz neu denkt; indem es nicht versucht, anderen Städten nachzueifern, sondern aus dem Szczeciner Understatement einen eigenen Charme entwickelt.