Wem gehört

Stettin?

Louise van Wijgerden

Den Becher mit typisch holländischem Design füllt sie mit polnischem Tee, dann setzt sie sich auf einen holländischen Stuhl und liest ein polnisches Buch. All das tut sie in einem ehemals deutschen Mietshaus. Es ist noch nicht lange her, als sie aus dem Auto stieg, mit dem sie nach Stettin gekommen war. Eine Stadt, die ihr einmal so weit weg schien und die sie jetzt beheimatet hat. Alte, riesige Bäume säumten die Straße zu beiden Seiten wie eine finstere, undurchdringliche Mauer, die nur ab und zu die herrlichen Strahlen der abendlichen Sonne durchscheinen ließ. Sie ließ es auf sich einwirken und fühlte die pure Freude, die nur jemand verspürt, der heimkehrt.

Als sie sich entlang der Trasa Zamkowa der Stadt näherte, schlug ihr Herz mit jeder Sekunde heftiger. Begeistert blickte sie zum Schloss hinüber, in dem sie so oft Ballet-Aufführungen besuchte. Wały Chrobrego, die einstige Hakenterrasse, die sie abends gern auf und ab wandert, wirkten nun geradezu einschüchternd auf sie. Solche Gefühle begleiten sie jedes Mal, wenn sie in die Stadt zurückkehrt.

Während sie die Treppe im ehemals deutschen Mietshaus emporstieg, wurde ihr klar, dass es nicht ihr Haus war. Jemand hat beschlossen, dass sie nicht zu diesem Ort gehörte und dass sie eine Entscheidung zu treffen hatte. Aber sie wollte es nicht. Nun trinkt sie erst einmal Tee und verwirft Gedanken, die unausweichliche Fragen mit sich bringen. Mit dem Buch, das sie aus dem Regal nahm und zu lesen begann, vermochte sie es nicht zu schaffen. Denn darin berichtet Teresa über Stettin, über die Stadt, der es stets verwehrt blieb, ihre Wurzeln tiefer zu schlagen.

1955. Deutsche verlassen ihre Häuser. Da ist ein älterer Mann, der genötigt wird, seine Katze und seine Freunde zurückzulassen. Sie liest solche Sätze und spürt, wie ihre Wangen von den kullernden Tränen nass werden. Tief im Herzen empfindet sie Angst, ja Entsetzen darüber, dass auch sie einmal diese Stadt wird verlassen müssen. – Eigentlich wollte ich mich ein wenig aufheitern – murmelt sie. Sie legt das Buch beiseite und greift nach der Zeitung. „Stettin: Ein Deutscher zusammengeschlagen”, „Polnischer Boden soll von Polen bestellt werden”, lauteten die Schlagzeilen. „Ach du meine Güte”.

Die Zeitung landete im Müll.

Sie kocht einen weiteren Tee und kommt dabei zur Ruhe. Sie erinnert sich daran, wie sie ihre Großmutter in den Niederlanden besuchte. Sie erinnert sich an die Tür, die man nur dann öffnen konnte, wenn man den Türgriff nach oben statt nach unten drückte, weil der Großvater ihn einst falsch montiert hatte. Das alles will sie nicht in den Wind schlagen, denn es gehört zu ihrer Identität, genauso wie Stettin es tut, weil die Stadt es schafft, dass es ihr warm ums Herz wird.

„Wem gehört Stettin? Gibt es jemanden, der sich hier mehr zu Hause fühlen könnte als ich es tue?”

Louise van Wijgerden