Stettin retrospektiv oder:

Auf dem Bahnhof der Zufälle

Marc Banditt

Verblasste Häuserreihen, bröckelnde Fassaden, trockene Staubwolken.

Obwohl an diesem Tag der tiefblaue Ostseehimmel die Stadt fürsorglich umhüllte, habe ich nur ein sozialistisches Grau in meiner subjektiven Erinnerung behalten. Wir fahren nach Stettin, sagten meine Eltern. Nach Polen. Wann ich zum ersten Mal dort war, kann ich nicht genau sagen. Es muss kurz vor oder nach 1990 gewesen sein. War es Zufall, dass wir dort Halt machten? Mit Sicherheit nein! Denn meine Großeltern wohnen in einem kleinen grenznahen Ort in der Uckermark. Aus ihrem Garten könnte ich heute einen Stein in die Oder werfen; jener Fluß, der seit dem Zweiten Weltkrieg Deutschland und Polen trennt. Somit waren Besuche bei Oma und Opa oft mit einer Fahrt nach drüben verbunden – zum Einkaufen.
Einige der Musikkassetten, die wir Kinder uns damals aussuchen durften, haben tatsächlich bis heute überlebt und funktionieren immer noch tadellos. Aber als kleiner Junge war ich natürlich Lichtjahre davon entfernt, das historisch-politische Verhältnis zwischen beiden Ländern zu hinterfragen, geschweige denn zu begreifen. Das sollte sich ändern.

Als junger Student, gesegnet mit wenig Geld, noch weniger Sprachkenntnissen, jedoch mit viel Neugierde und einem Semesterausweis, begann ich mit meiner besseren Hälfte, das neue und alte Polen zu entdecken. Wenn man in Brandenburg wohnt und aufwächst, ist die Anzahl der Nachbarländer eben auch nicht sehr groß. Breslau, Krakau, Posen, die Haltestelle Woodstock und vor allem Danzig waren begehrt. Für das unscheinbare Stettin blieb nur eine Tagestour übrig. Was gab es da schon zu sehen? Ein nettes Renaissanceschloss und ein altes Tor, dessen lateinische Inschrift mir damals verriet, dass der Soldatenkönig die Stadt einst für Preußen erworben hatte: das Berliner Tor. Diesen Namen trägt es längst nicht mehr, verständlich aus polnischer Sicht.

Von diesem Ausflug erzählte ich dann meinem anderen Großvater. Erst dabei habe ich erfahren, dass er dort früher mal eine kleine Wohnung hatte. Er wisse jedoch nicht mehr genau wo – irgendwo am Wasser. Nun ja, davon gibt es viel in dieser Stadt. Unsere erste Adresse im Nachbarland blieb dennoch das große und ehrwürdige Danzig. Bei den vielen Fahrten dorthin, bei denen der Zug durch die weiten Felder Brandenburgs und anschließend Hinterpommerns trödelte, war Stettin schon eine willkommene Abwechslung. Eine richtige Großstadt.
Mehr als den baufälligen Hauptbahnhof habe ich in dieser Zeit trotzdem nicht näher kennengelernt. Stettin blieb für mich in der Rolle eines Umsteigepunktes gefangen, den nur viele dunkle Gestalten säumten. Immerhin wurde hier etwas Deutsch gesprochen, auch wenn sich das Vokabular auf die Worte „Geld“ und „Zigarette“ beschränkte. Es half auch nicht, dass ich mittlerweile wieder Verwandtschaft in der Stadt besaß.
Schon wieder ein Zufall?

Meine angeheiratete Tante konnte mir den Ort nicht unbedingt schmackhaft machen, das wollte sie auch gar nicht. Was blieb, war immer nur Danzig, der große gemeine Bruder. In diese Stadt hatte ich mich verguckt. So sehr, dass ich es schließlich wagte, gleich mit einer ganzen Doktorarbeit die schicksalsreiche Geschichte dieses Fleckchens Erde gehörig umzugraben. Ich war also im Begriff, ein deutscher Historiker zu werden, der etwas von Polen versteht. Grund genug, nun auch endlich intensiver die Sprache zu lernen. Die kümmerlichen knapp hundert Wörter, die ich bis dahin drauf hatte, reichten einfach nicht mehr aus. Denn es war klar, es würde wieder öfter Richtung Osten gehen. Im Gepäck: leider nur geringfügig mehr Bares, ein deutlich größerer Wortschatz, ein Mehr an Hintergrundwissen und – zum Glück – noch immer das gute alte Studententicket.

Die Fahrzeiten der Deutschen Bahn und der polnischen PKP kannte ich schon fast auswendig, den noch immer nicht renovierten Dworzec Główny in Stettin allemal. Dabei wäre es vielleicht auch geblieben. Doch erneut trat Genosse Zufall auf den Plan. Er hätte sich ruhig etwas positiver äußern können als in Gestalt einer Nahrungsmittelunverträglichkeit, die bei unserer kleinen Tochter festgestellt wurde. Wie auch immer. Mir war längst aufgefallen, dass man sich jenseits der Oder nicht mehr nur mit einfachen Supermärkten zufriedengibt und in dieser Hinsicht ganz andere Geschütze auffährt – Einkaufen mit doppelter Auswahl zum halben Preis, versteht sich, aus deutscher Sicht. Warum versuchen wir unser Glück nicht in einer Stadt, die erstens groß ist und zweitens nahe an der Grenze liegt. Na klar, Stettin!

Am besten, ich nehme den kleinen Zwerg gleich mit. Gesagt, getan. Nach mindestens einem halben Dutzend an Ausflügen mit meiner Tochter in die Konsumoase Szczecin kann ich rückblickend sagen, dass ich sonst vielleicht nie die Hakenterrasse, das Amphitheater, das Kino Pionier zu Gesicht bekommen hätte – die Sehenswürdigkeiten eben. Zugegeben, wir haben es bis heute nicht ein einziges Mal geschafft die über vierzig Stationen der roten Linie komplett am Stück abzulaufen. Viel wichtiger ist mir aber, die kleinen liebenswerten Ecken und Kanten, die Spielplätze und Brunnen, den McDonald's im Kaskada (mit dem erstaunlich leicht zu bedienenden Touchscreen, über den sich sogar das Spielzeug im Happy-Meal-Menü auswählen lässt) und die nunmehr auch modernisierte Bahnhofshalle zu kennen. Denn diese machen jeden Ort erst lebendig, wenn man sie aus denjenigen Augen betrachtet, die uns am meisten wiedergeben: denen eines Kindes. Allein das Wort „Stettin“ zaubert nun ein fröhliches Gesicht mehr hervor. Wen interessiert schon ein Platz, wo sich ein alter Mann mit Hut und drei Adler aus Stein gegenüberstehen, wenn man dort mit einem Tretauto für ein paar Złoty umherkurven kann?

Meine Promotion habe ich fast abgeschlossen und ich könnte mich daher in der Lage sehen, meine eigenen Verknüpfungen mit Stettin vor dem Hintergrund der deutsch-polnischen Beziehungen ausgiebig zu analysieren und zu reflektieren. Ich könnte versuchen, die vielen scheinbaren Zufälle zu einem historischen Narrativ zusammenzusetzen, im Sinne eines postnational eingefärbten Identitätsdiskurses.
Aber wozu?

Das können andere erledigen; schließlich gibt es genug Geisteswissenschaftler auf dieser Welt. Mir genügt die Gewissheit, dass sich mit jedem Besuch ein weiteres Puzzleteil zu einem bunten Stadtmosaik zusammenfügt. Es ist mein Mosaik, das ich mit Sicherheit noch nicht fertig gesetzt habe.

Marc Banditt