Zwischen
Ost und West
Katharina Lein
Als ich diese Woche zum ersten Mal mit dem Zug von Angermünde nach Stettin fuhr, lauschte ich dem Gespräch eines deutschen Pärchens mittleren Alters, das sich wenig Mühe gab, seine Stimmen zu dämpfen, sodass alle Fahrgäste im Umkreis von zehn Metern an ihren Gedanken teilhaben durften. Auf mich wirkten die beiden auf den ersten Blick wie typische Einkaufstouristen, wie ich sie auch in Frankfurt (Oder) und Słubice häufig sehe. Meist sind das ältere Menschen; Frauen, die in freudiger Erregung den zahlreichen Verführungen der von ihnen so genannten „Polenmärkte“ (und von Polen so genannten „Deutschenmärkte“) entgegensehen; Herren, die etwas missmutig dreinblickend die Einkäufe der Damen tragen dürfen, oder auch Männer, die für günstige Zigaretten sogar den weiten Weg in die „Volksrepublik“, wie manche von ihnen immer noch sagen, in Kauf nehmen.
In Vorbereitung auf meinen Stettin-Aufenthalt habe ich mir einige Informationen über die Stadt eingeholt und so unter anderem erfahren, dass die deutschen Konsumenten mittlerweile nicht mal mehr in die Innenstadt fahren müssen, sondern das Einkaufsparadies ihnen sozusagen entgegenkommt und an den westlichen Stadtrand rückt. Ansonsten scheint es sich nicht allzu sehr von den Märkten in Słubice zu unterscheiden.
Das Pärchen jedenfalls, das meine Aufmerksamkeit im Zug so stark in Anspruch nahm, sprach nun von dem Ort, den sie anvisierten. Erstaunlicherweise schien der Mann zu einem gewissen „Tschetschen“ zu wollen. Ich stutzte. Meinte er Tschetschenien? Saß ich etwa im falschen Zug? Fuhr dieser gar nicht nach Stettin, sondern in eine Stadt in Tschetschenien? Panisch überprüfte ich mein Ticket und war sogleich erleichtert. Dort stand Angermünde bis Stettin Hauptbahnhof. Offensichtlich war ich richtig, sonst wäre es dem Schaffner, der das Ticket vor nicht einmal zehn Minuten abgeknipst hat, aufgefallen.
Doch was zum Teufel wollte der Mann dann in diesem Zug, wenn sein Ziel eigentlich Tschetschenien war? Warum sahen er und seine Frau so aus, wie man sich einen typischen Einkaufstouristen, der nach Stettin möchte, vorstellt? Mein Blick schweifte herum, fiel auf die digitale Anzeige im Zug und in diesem Moment ertönte auch rauschend die Durchsage: Szczecin Główny. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das Pärchen wollte tatsächlich, ebenso wie ich, nach Stettin, hat aber den Namen der Stadt Polnisch ausgesprochen. Der polnischen Sprache kaum mächtig, kam dabei „Tschetschen“ statt „Szczecin“ heraus. Nun war ich erneut erleichtert und auch ein wenig belustigt.
Ich schaute aus dem Fenster. Wiesen, Felder, Wälder, öde Landschaft zogen an mir vorbei, selten einmal eine stillgelegte Fabrik oder eine kleine Siedlung. Wir waren noch in Deutschland, aber im nordöstlichsten Zipfel Brandenburgs, gefühlt also am Ende der Welt. Kaum zu glauben, dass es da irgendwo noch Zivilisation, sogar eine Großstadt geben sollte. Vielmehr erinnerte mich die Landschaft hinter den Fenstern des Zuges an die Dokumentarfilme, die ich als Kind über die sibirische Tundra gesehen hatte. Mir fielen die Vorurteile mancher Bekannter ein, mit denen ich konfrontiert wurde, als ich begann, in Frankfurt (Oder) und Słubice zu studieren. Für viele meiner Gesprächspartner war Frankfurt gefühlt mitten in Polen, also schon fast in Sibirien. Ich erinnerte mich auch an Seminare an meiner Uni, in denen wir über Irena Brežnás Essay „Wo fängt der Osten an?“ gesprochen haben, über den Mythos „wilder Osten“, der für viele sich als „westlich“ verstehende Menschen auch heute noch als unzivilisiert, ja geradezu barbarisch gilt, darüber, dass Wien geografisch weit östlicher als Prag ist, aber als Zentrum des ehemaligen Habsburgerreiches im Bewusstsein vieler Menschen selbstverständlich im Westen liegt, während Prag als tiefster Osten gilt. Ich erinnerte mich an die Texte zum Thema „das Fremde“, durch das sich das Eigene definiert, und die Gespräche darüber, dass das Fremde als bedrohlich, aber auch auf eigentümliche Weise faszinierend empfunden werden kann.
Viele Deutsche verstehen sich als westliche Menschen, für die der Osten eine solche Fremdheit ausstrahlt. Ich dachte an die vielen negativen Vorurteile vieler Deutscher gegenüber Polen, blickte noch einmal aus dem Zugfenster in die trostlose Landschaft und fragte mich, ob hier schon der Osten beginnt. Ob die Assoziation „Tschetschenien“ vielleicht naheliegender ist, als man denkt. Ich versuchte, eine „westliche“ Perspektive einzunehmen. War ich also im wilden Osten gelandet oder gar am Ende der Welt?
Ich wundere mich, dass Menschen aus dem Westen, der angeblich so zivilisiert und fortschrittlich ist, so einfältig über andere Gegenden, die nicht ihrem Standard entsprechen, denken können. Ich finde es erstaunlich, dass sie sich so überheblich über andere Kulturen hinwegsetzen, sie als rückständig bezeichnen, aber viel zu selten einen Blick über ihren eigenen Tellerrand wagen, Grenzen überwinden und sich für andere Kulturen öffnen. Wer hat festgelegt, dass alles dem westlichen Standard folgen muss? Wer denkt tatsächlich, dass im Westen paradiesische Verhältnisse herrschen? Haben wir nicht längst erkannt, dass in Deutschland bei weitem nicht alles perfekt ist und unsere westlichen Werte zunehmend infrage gestellt werden? Können wir wirklich stolz darauf sein, in einer Gesellschaft zu leben, in deren Bewusstsein östlich der Oder und Neiße die Zivilisation aufhört und die Grenzen zu der breiigen Masse „Osten“ verschwimmen, die uns bei dem Wort „Szczecin“ sogleich an Tschetschenien, Russland oder Sibirien denken lässt?
Am Hauptbahnhof ausgestiegen, folgte ich nicht dem deutschen Pärchen in Richtung Einkaufszentren, sondern machte mich auf, Stettin einige Tage lang aus einem nicht-touristischen Blickwinkel zu erkunden. Gestern besichtigte ich den Stadtteil Skolwin. Er ist für viele Stettiner ebenso das Ende der Welt, wie es Polen für viele Deutsche ist. Eine abgelegene Gegend, abgeschottet von den vielfältigen kulturellen Möglichkeiten der Großstadt, vergessen von der Welt. Die Lebensqualität der Menschen auf niedrigstem Niveau, baufällige Häuser, bröckelnde Fassaden, teilweise kein Anschluss an die Kanalisation. Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Armut. Ist das der Osten? Oder nur eine Gegend, die aufgegeben hat oder aufgegeben wurde, die es aber auch in anderen Peripherien geben könnte? Nebenbei bemerkt liegt Skolwin im Norden von Stettin, nicht im Osten.
Aber was nutzen den Bewohnern dieses Stadtteils eigentlich solche Kategorien? Sicher interessieren sie unsere Zuordnungen wenig. Sie helfen ihnen auch nicht. Helfen würde ihnen eher, wenn die Stadt ihre Probleme endlich ernst nehmen würde. Wenn die Menschen Perspektiven hätten. Wenn sich grundlegend etwas ändern würde.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist für manche von ihnen das Kulturhaus, in dem sich neun fest eingestellte und mehrere ehrenamtliche Mitarbeiter darum bemühen, vor allem Kindern, aber auch Erwachsenen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung zu bieten, sie für Kultur zu begeistern und ihnen eine Zukunft zu eröffnen, die nicht aus Biertrinken in Hauseingängen besteht. Manch einer würde jetzt sagen: „Sie versuchen, in Skolwin westliche Standards einzuführen.“